Die Causa Pechstein - ein Statement
Die Causa Pechstein – ein prädestiniertes Beispiel für die Übersetzungsfunktion von Translating Doping
Der Dopingfall um die deutsche Eisschnellläuferin Claudia Pechstein wurde mit dem Urteil des Internationalen Sportgerichtshofes (CAS) vom 25.11.2009 zu einem ersten Ende gebracht, nun beginnt die zweite Runde vor dem Schweizer Bundesgericht, das einem ersten Eilantrag stattgegeben hat. Dem Urteil des CAS, das seinerseits die Sperrung Pechsteins durch die International Skating Union (ISU) bestätigt, kommt dabei ein nicht zu unterschätzender Vorbildcharakter für den internationalen Kampf gegen das Doping zu. Aber auch für die wissenstheoretische Analyse des Dopingdiskurses, wie sie Inhalt des Forschungsprojektes Translating Doping ist, birgt der Fall viel Übersetzungsarbeit. Während für die unmittelbar von der Dopingthematik betroffenen Sportler und Sportlerinnen und die involvierten Anti-Doping-Organisationen sowie Sportverbände sicherlich das indirekte Nachweisverfahren der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist, ergeben sich aus dem Fall noch weitere vielschichtige Reflexionsansätze für eine wissenstheoretische Analyse.
Der Inhalt des Prozesses
Das Blut Claudia Pechsteins stand mindesten ebenso im Brennpunkt des Interesses wie die Person. Die mehrmalige Weltmeisterin und Olympiasiegerin im Eisschnelllauf wies bei einigen Messungen erhöhte Retikulozytenwerte auf. Die Tagespresse hat über diese Messungen in aller Ausführlichkeit berichtet, und auch die Athletin informiert auf ihrer Homepage in extenso über langfristige Blutproben, denen sie sich als Spitzenathletin unterziehen musste. Ihre Sperre durch die ISU hat Pechstein vor dem CAS mit allen Mitteln angefochten, so dass sich im Laufe des Spätsommers und angehenden Herbstes eine Gutachter- und Medienschlacht entwickelt hat. Auf allen Ebenen wurde argumentiert und gestritten – mit dem Resultat, dass der CAS sämtliche von Pechstein vorgebrachten Argumente zwecks des Beweises ihrer Unschuld rigoros abgeschmettert hat. Die 63-seitige Urteilsbegründung lässt absolut keinen Zweifel daran, dass Pechstein zumindest in sportjuristischer Sicht ihrem Namen alle Ehre machen muss, d.h. alle vorgebrachten Argumente wurden vollständig abgelehnt, Gutachten, die die Athletin selbst in Auftrag gegeben hat, teils gegen sie ausgelegt. Mittlerweile kritisieren aber namhafte Experten das Gutachterprozedere.
Der Vorwurf der ISU und der Grund für eine zweijährige Sperre beruhen auf dem indirekten Nachweis des Blutdopings. Solch ein Nachweis beruht darauf, dass bestimmte Blutwerte, hier der Gehalt an Retikulozyten, über einen längeren Zeitraum untersucht werden. Weichen diese Werte von einem bestimmten Normalbereich ab und liegt keine medizinische Erklärung dafür vor, so wird auf eine Blutmanipulation durch verbotene Dopingmittel geschlossen. Retikulozyten sind junge rote Blutkörperchen, die letztlich für die Bindung des Blutsauerstoffes verantwortlich sind – je mehr davon im Blut vorhanden sind, desto höher die Leistungsfähigkeit des Athleten. Dieser Wert war bei Pechstein zum Zeitpunkt zweier Wettkämpfe massiv erhöht, so dass sich die ISU dieser Werte als Indizienbeweis für eine illegitime Blutmanipulation bediente. Dafür ist es nicht notwendig, eine Dopingsubstanz wie EPO nachzuweisen, die sonst als Ursache in Frage gekommen wäre. Es wäre auch eine Eigenbluttransfusion möglich gewesen. Gegen diesen Vorwurf hat Pechstein nun auf allen möglichen Ebenen protestiert. Ein Eilantrag beim Schweizer Bundesgericht führte schließlich zu einer begrenzten Starterlaubnis für die Olympiaqualifikation im 3000m-Rennen, die Pechstein aber verfehlt hat. Somit dürfte damit zumindest vorläufig ihre Karriere im Eisschnellauf beendet sein.
(1) Die biochemischen Messungen aller Arten von Blutwerten beruhen auf komplizierten statistischen Messverfahren. Pechstein hat diese standardisierten Verfahren angezweifelt und damit die konkreten Messwerte ihres Blutes für falsch erklärt. Zum Beispiel berief sie sich darauf, dass andere Messgeräte als das von der ISU benutzte erheblich andere Messwerte liefern würde. Außerdem argumentierte sie, dass die Blutmessgeräte falsch bedient werden können. Dann kritisierte sie die zugrunde gelegten Referenzwerte der ISU für eine Überschreitung. Der CAS hat sich hinsichtlich der labormedizinischen Details auf Gutachteraussagen gestützt, die das von der ISU eingesetzte Gerät als Referenztechnik einstufen. Involvierte Techniker des Herstellers und Laboranten haben die protokollgemäße Handhabung bestätigt. Führende Hämatologen führten an, dass die von der ISU festgelegten Referenzwerte dem aktuellen Stand der Forschung entsprächen. Im Nachhinein äußern sich aber auch vermehrt Hämatologen zu Wort, die das Blutanalyseverfahren der ISU stark kritisieren. Auch den durch Pechstein nicht erbrachten Erweis einer chronischen Blutkrankheit oder genetischen Anomalie ließ das Gericht nicht gelten.
(3) Die Vorwürfe hinsichtlich der Messungen ihrer Blutwerte ergänzte Pechstein um Vorwürfe hinsichtlich des Umgangs mit den Proben. Ihrer Meinung nach wurden Etiketten bzw. Barcodes verändert, so dass eine eindeutige Zuordnung der Proben nicht mehr zuverlässig möglich sei. Letztlich seien Daten auch fehlerhaft in die Datenbank der ISU eingegeben worden. Diese Vorwürfe hinsichtlich der für Laboratorien vorgeschriebenen chain of custody wehrte das CAS ebenso ab und attestiert der ISU bzw. den Labors ein sauberes diagnostisches Management der Blutproben.
(4) Hinsichtlich des labortechnischen Verfahrens kritisierte Pechstein weiterhin, dass sich die ISU nicht an die für Dopingkontrollen notwendigen Standards der World-Anti-Doping-Agency (WADA) gehalten habe und ihre Proben nicht in einem akkreditierten Dopinglabor analysiert worden seien. Dies sei allerdings auch nicht notwendig, so der CAS in seiner Begründung, da es sich nicht um Dopingkontrollen im eigentlichen Sinne, sondern um die Erstellung eines Blutprofils gehandelt habe. Solche Proben müssten nicht in einem speziellen Dopinglabor untersucht werden.
(5) Neben diesen biochemischen Aspekten war die ISU der Meinung Pechsteins nach gar nicht berechtigt, langfristige Blutprofile zu erstellen, ein entsprechendes Statut der WADA würde erst ab 2009 in Kraft treten. Auch kritisierte Pechstein, dass die Frist zwischen der Dopingkontrolle im Wettkampf und der Sperre durch die ISU nicht eingehalten wurde. Auch diesen Einwand hat das Gericht nicht akzeptiert und der ISU ein regelkonformes Vorgehen bescheinigt.
(6) Verfahrensrechtlich hat Pechstein schließlich gefordert, dass die ISU das Gericht »very close to ‚beyond reasonable doubt‘« überzeugen und ihr eine tatsächliche Absicht des Blutdoping nachweisen müsse. Aber dieser Beweisstandard gilt, so das Gericht, nur in strafrechtlich relevanten Fällen, wozu Dopingvergehen nicht zählen.
Übersetzungsfragen im Schnittfeld von Technik, Recht, Moral und Medien
Der Fall Pechstein ist aufgrund seiner Vielfältigkeit ein besonders prädestinierter Fall für die Dopingforschung, aber ebenso auch für die wissenstheoretische Übersetzung der sich in diesem Dopingfall herauskristallisierenden Problemaspekte. Hier vermengen sich medizinische mit juridischen, juristischen und ethisch-moralischen Fragen.
Schon an der Frage, welchen labormedizinischen Standards Blutproben unterliegen – handelt es sich um Dopingproben oder »nur« um Bluttests –, entzündet sich eine juristisch relevante Debatte um medizinische Analysen. Aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive auf die biochemisch und auch pharmazeutisch relevanten Aspekte ergeben sich grundlegende Fragen, wie überhaupt medizinische Fakten (Tatsachen) geschaffen werden. Ins Auge sticht beispielsweise, dass der CAS das von der ISU bzw. entsprechenden Laboren benutzte Gerät als sogenannten gold standard festsetzt, obwohl andere Geräte durchaus deutlich abweichende Ergebnisse erzielen. Wie ist solch eine Normsetzung zu rechtfertigen? In ihrer Urteilsbegründung rekurrieren die Richter dabei auf Expertenaussagen. Aber wären andere Experten oder Hersteller anderer Geräte vielleicht zu einer anderen Einschätzung gekommen? Mit diesem Fragenkomplex rückt der juridische Stellenwert fachwissenschaftlicher Expertise in den Fokus der Betrachtung – ein Thema, das weit über die Dopingthematik hinaus in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu langwierigen Gerichtsverfahren führt.
Hier muss eine Übersetzung zeigen, wie fachwissenschaftliches Wissen in den Bereich der Rechtsprechung überführt werden kann. Dabei muss der Stand der Technik ebenso wie die ethischen Ansprüche und die politisch-gesellschaftlichen Interessen aller Betroffenen gleichermaßen berücksichtigt werden. Eines der prominentesten Beispiele außerhalb des Sports ist sicherlich die Endlagerfrage für Atommüll. Hier werden immer wieder neue Gutachten und Gegengutachten formuliert, es kollidieren die Interessen von Bürgern, Politikern und Unternehmen.
Im Sport stellt sich derzeit die Frage, ob Dopingvergehen strafrechtlich verfolgt werden sollen. Dieser Diskussion liegt die Angst vor einer strafrechtlichen Überregulierung des Sports zugrunde, d.h. einerseits wünscht man sich auf Seiten der Anti-Doping-Organisationen striktere Regelungen, andererseits sollen die Statuten der WADA bzw. der Verbände doch eben auch lieber Statuten bzw. Regeln bleiben und nicht einen gesetzesähnlichen Charakter annehmen. Dann würde nämlich gegebenenfalls auch das Maß der Beweislast in Dopingprozessen steigen, was die Anti-Doping-Bemühungen auch wieder erschweren würde.
Insgesamt hängen die juristischen Probleme mit der medizinischen bzw. insgesamt technologischen Entwicklung zusammen, da die fortschreitende Dopingproblematik durch den medizinischen Fortschritt bedingt ist. Neue, zunächst therapeutische Behandlungsmethoden werden in den Kontext der sportlichen Leistungssteigerung kontinuierlich importiert. Die zunehmende Technisierung der Lebenswelt verlangt zugleich nach einem juristischen Umgang mit den Gefahren- und Risikopotentialen der neu errungenen technologischen Möglichkeiten. Entscheidend ist dabei das Verhältnis der persönlichen Freiheitsrechte zu den juristischen Einschränkungen, die als notwendig erachtet werden, um die Interessen anderer zu schützen. Dahinter liegt die strukturelle Aporie, dass technologische Entwicklungen neue Freiheiten und damit zugleich Gefahren schaffen. Eine Aporie liegt deshalb vor, weil die neuen Freiheiten nicht ohne neue Gefahren zu haben sind. Die Gefahren treten als Missbrauchsmöglichkeiten auf: eine Technik kann zu einem als im weitesten Sinne guten Zweck eingesetzt werden. Hinsichtlich technologischer Innovationen fallen darunter solche Zwecke, die neue Handlungsoptionen eröffnen. Mit dem Auto fährt es sich besonders bequem, eine medizinische Innovation erlöst von einem schweren Leiden. Es sind aber auch solche Zwecke möglich, die die Freiheit anderer verletzen. Mit den Methoden der modernen Blutanalyse können Informationen über Arbeitnehmer gewonnen werden, die in einem Vorstellungsgespräch nie erfragt werden könnten, ohne offenkundig indiskret zu werden. Technische Errungenschaften bringen also einen Freiheitszuwachs gleichzeitig mit der Möglichkeit einer Einschränkung oder Verletzung von Freiheit mit sich. Man denke an das bekannte Phänomen des durch Verkehr und Industrie verursachten Smogs.
Neben diesen Diskursen, die sich im umfassenden Spannungsfeld von Wissenschaft, Recht und Moral bewegen, besticht die Causa Pechstein schließlich auch durch den Mediendiskurs. Die Medien interessierten sich von Anfang an enorm für eine Story, die unter dem Motto abgehandelt wurde: von der Vorzeigeathletin zur Dopingsünderin. Die Athletin hat ebenfalls alle Register der Öffentlichkeitsarbeit gezogen, um ihre Unschuld zu beteuern. Auftritte im Fernsehen, Interviews und Pressekonferenzen sollten der Öffentlichkeit zeigen, dass sie Opfer eines ideologischen Anti-Doping-Kampfes geworden sei. Darüber hinaus konnten sich im Rahmen der Berichterstattung diverse Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen zu Wort melden. Neben diesen disparaten Meinungsäußerungen ist aber vor allem die Inszenierung Pechsteins medientheoretisch hinsichtlich ihrer Motivation und Erwartung von besonderem Interesse. Diese Medienpräsenz bildet im Sinne einer offensiven Öffentlichkeitsarbeit gleichsam die Klammer des medizinischen und rechtlichen Diskurses, da sie ihre moralische Unschuld einem breiten Publikum auf Basis medizinischer Daten belegen will.
Insgesamt scheint die zunehmende Jurifizierung dem Sport nicht zuträglich. Die sportlichen Leistungen und Wettkämpfe, um die es beim Sport zumindest der Idee nach gehen sollte, treten dabei völlig in den Hintergrund. Wenn eine niederländische Konkurrentin Pechsteins schon darüber sinniert, dass sie am liebsten absichtlich die Zeit ihrer deutschen Konkurrentin unterbieten will; wenn eine Starterlaubnis eingeklagt werden muss, dann hat der Anti-Doping-Kampf eine durchaus fragwürdige Form angenommen. Fragwürdig deshalb, weil sportliche Entscheidungen zunehmend an Verhandlungstischen, in Expertenrunden oder gar Gerichtssälen gefällt werden.
Übersetzung als eine erste Antwort auf technologische Anforderungen an die Lebenswelt
Die Politik, insbesondere der Gesetzgeber sieht sich angesichts solch komplizierter Zusammenhänge in einer schwierigen Situation. Einerseits können Streitigkeiten insbesondere um Freiheits- und Persönlichkeitsrechte an die Gerichte übertragen werden, die die bestehenden Gesetze konsequent anwenden sollen. Die Alternative wären neue Gesetze und damit eine zunehmend stärkere Reglementierung der Lebenswelt, die im Zeitalter des allseits geforderten Bürokratieabbaus auch nicht als wirkliche wegweisende Lösung erscheint. Um hier zu langfristig tragbaren Lösungen zu kommen, müssen sehr vielfältige Faktoren abgewogen werden, die sich alle in der Frage bündeln lassen, wie viel Freiheit dem einzelnen Akteur zugestanden werden sollte. Das setzt aber voraus, dass der Einzelne die Voraussetzungen hat, überhaupt verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. In den Prozess der individuellen wie öffentlichen Meinungsbildung spielen neben den politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren die Medien eine entscheidende Rolle, da sie die Informationen für eine Meinungsbildung aufbereiten und allgemein zugänglich machen. Der Faktor der Vermittlung von Informationen kann vor dem Hintergrund der vielfältigen medialen Formen und Kanäle gar nicht hoch genug geschätzt werden, denn ohne sachgemäße Informationen ist jeder kritische Diskurs von vornherein ausgeschlossen.
Die rechtliche und letztlich moralische Dimension der zunächst technischen Fragen (um beispielsweise Blutwerte) darf insgesamt nicht außer Acht gelassen werden. Die für den einzelnen Bürger wesentlichen Freiheitsrechte können schon mal übersehen werden, wenn auf eine neue Technik oder, wie in der jüngsten Zeit, auf neue Bedrohungen reagiert werden soll. Eine wissenstheoretische Übersetzung wird dabei nicht beschlussfähige Lösungen anbieten, sondern die komplizierten Zusammenhänge so aufbereiten, dass eine Verständigung möglich wird – eine Verständigung, die die vor allem technologischen Herausforderungen in einen gesellschaftlichen und ethischen Horizont stellt. Vor dem Hintergrund der stark ausdifferenzierten Wissenschaften ist es entscheidend, integrierende Gesamtperspektiven darzustellen, die die grundlegenden moralischen Fragen mit der fachwissenschaftlichen Expertise verbinden.
Eines jedoch bekräftigt die Causa Pechstein bereits jetzt: Der Sport verliert seinen Wert, wenn Entscheidungen nicht auf der Eisbahn, sondern am Verhandlungstisch oder im Labor gefällt werden. Und auch für die Medien ist der Wettkampf im Stadion sicher spannender und einträglicher als das Für und Wider von Gutachtern und Juristen im Gerichtssaal.